Naturrecht

Naturrecht
Na|tur|recht 〈n. 11im Wesen des Menschen begründetes, von staatl. u. gesellschaftl. Verhältnissen unabhängiges Recht

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Na|tur|recht, das (Ethik):
Recht, das unabhängig von der gesetzlich fixierten Rechtsauffassung eines bestimmten Staates o. Ä. in der Vernunft des Menschen begründet ist.

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Natur|recht,
 
Rechtsphilosophie: in einem weiteren Sinne diejenigen Grundsätze einer allgemeinen Ordnung, die unabhängig von menschlicher Zustimmung und von vom Menschen gesetztem (positivem) Recht stets gelten; in einem engeren Sinne diejenigen Gerechtigkeitsprinzipien, die in der Natur der Sache oder der Natur des Menschen angelegt sind; dieser Ansatz weist auf das Problem hin, ob die natürliche Welt in sich selbst einen Maßstab für das Richtige, ein Richtmaß für das Gesollte enthält und somit die Frage beantwortet werden kann, was naturgegebene Gerechtigkeit sei.
 
Die Wurzeln der Naturrechtslehre reichen in die ionische Naturphilosophie (6./5. Jahrhundert v. Chr.) zurück. Sie verstand die Natur (»physis«) als das wahre, angeborene Wesen im Unterschied zu den bloßen Konventionen. In der späteren Sophistik traten Natur und Gesetz als deutliche Gegensätze auf. Während ein Teil der Sophisten unter »Natur« die physische Wesensart des Menschen verstand und deshalb das Recht des Stärkeren für das »Naturgemäße« hielt, begriff Platon das wahre Recht des Menschen von der Idee des Logos (Wort, Verstand) beziehungsweise von der Kraft des Wortes als Ausdruck der Vernunft her. Aristoteles verstand unter Naturrecht das, was unabhängig von konventionellen Gesetzen überall dieselbe Geltungskraft habe. Die stoische Philosophie sah den Begriff der Natur in einer Einheit mit dem Weltgesetz der Allvernunft: Das ewige Gesetz der Welt (lateinisch »lex aeterna«) ist auch das Gesetz der menschlichen Natur (»lex naturalis«). Dieser Gedanke beeinflusste auch das römische Staats- und Rechtsdenken; so schrieb Cicero, es gebe ein wahres Gesetz, nämlich die rechte Vernunft, die mit der Natur übereinstimmt, in allen Menschen lebendig ist und unabänderlich und ewig gilt (»lex est ratio summa insita in natura«). Diesem, und nur diesem Gesetz habe der Mensch zu gehorchen. In der Spätantike erschien die »lex aeterna« bei Augustinus als die in der Vernunft oder dem Willen Gottes existente, von Ewigkeit her bestehende Schöpfungsordnung; von ihr sei die »lex naturalis« ein Abdruck in der menschlichen Ratio. Die Frage, ob in der »lex aeterna« der Vernunft oder dem Willen der Vorrang gebühre, wurde zum philosophischen Grundproblem des Mittelalters Thomas von Aquino gab der Vernunft den Vorzug. Er lehrte, alles, was existiert, habe eine natürliche Zweckbestimmung, so auch der Mensch. Dieser strebe naturgemäß danach, seine Anlagen und Fähigkeiten zu entfalten. Diese Entfaltung erfordere eine gerecht geordnete Gemeinschaft, der alle Politik und alles Recht zu dienen habe. Nach Thomas von Aquino markieren J. Duns Scotus und Wilhelm von Ockham den Wandel des philosophischen Weltbildes. Sie verwarfen die vorangegangene Vernunftgläubigkeit und postulierten als einzigen Grund für die (göttliche) Gerechtigkeit den Willen Gottes.
 
Fanden sich schon bei Ockham die »iura naturalia«, die natürlichen Rechte Leben, Freiheit und Eigentum, so versuchte die Rechtsphilosophie der Aufklärung, diese Rechte als vernunftnotwendig abzuleiten. - Der systematisierte Begriff des modernen Naturrechts wurde v. a. von F. Suárez, H. Grotius, S. von Pufendorf, J. Althusius geschaffen und als einer der Hauptimpulse der Aufklärung begriffen. Wie schon bei Aristoteles und Thomas von Aquino ist der Geselligkeitstrieb des Menschen die Ursache für den Gesellschaftsvertrag. Da Unrecht ist, was eine Gemeinschaft vernünftiger Menschen verletzt, wird mit der Vernunft als Erkenntnisquelle das Naturrecht zu einem »Vernunftrecht«, das auch dann gilt, wenn Gott nicht existieren sollte (Grotius). Pufendorf führte eine Trennung des Naturrechts vom lutherischen Aristotelismus durch und ordnete es der absolutistischen Verfassungstheorie zu. Parallel zur Profanierung des Naturrechts erfolgte dessen Positivierung aufgrund der Übernahme naturwissenschaftlicher, insbesondere mathematisch fundierter Ansätze. C. Thomasius und C. Wolff versuchten, von obersten Prinzipien aus ein vollständiges, alle Rechtsgebiete umfassendes System von exakten, absolut gültigen Gesetzen herzuleiten.
 
Das Vernunftrecht der Aufklärung beeinflusste die amerikanische und die französische Revolution und somit die Entstehung des modernen, auf die Beachtung von Menschenrechten verpflichteten Staates und prägt Inhalt und Systematik vieler Kodifikationen der Zeit (Preußisches Allgemeines Landrecht, 1794; Code civil, 1804; Österreichisches ABGB, 1811). Zugleich werden aber die theoretischen Grundlagen des Naturrechts in der kritischen Philosophie I. Kants durch die (zuvor schon von Thomasius vertretene) Trennung von Recht und Sittlichkeit und durch die Ablehnung einer auf die Erfahrung gegründeten Moral (heute »naturalistischer Fehlschluss von Tatsachenbehauptungen auf Sollenssätze«) zerstört. Die stattdessen von Kant unternommene apriorische Normenbegründung durch den kategorischen Imperativ bleibt formal und wird im 19. Jahrhundert im Historismus (F. C. von Savigny) und später im Rechtspositivismus nicht weiterverfolgt. Als Reaktion auf die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus erlebte der Gedanke des Naturrechts nach 1945 eine kurze Renaissance, wird aber heute außerhalb der katholischen Kirche (neuthomistische Soziallehre im Anschluss an V. Cathrein) allgemein abgelehnt, nachdem das praktische Bedürfnis durch die Gewährleistung individueller Grundrechte in den modernen Staatsverfassungen entfallen und die theoretische Basis der Kritik der sprachphilosophischen Metaethik nicht gewachsen ist (Grundwerte). Dennoch lebt das Kernproblem der Naturrechtsfrage, die Letztbegründung der Verbindlichkeit des Rechts, auch im modernen Rechtsdenken und der Sozialphilosophie fort, etwa in Gestalt einer Bindung der Rechtsfindung an die »Natur der Sache«, der Erneuerung des Paradigmas des Gesellschaftsvertrages (J. Rawls) oder des prozeduralen Gerechtigkeitsverständnisses der »Transzendental-« (K. O. Apel) beziehungsweise »Universalpragmatik« (J. Habermas).
 
 
V. Cathrein: Recht, N. u. positives Recht (21909, Nachdr. 1964);
 O. Gierke: Die Grundbegriffe des Staatsrechts u. die neuesten Staatsrechtstheorien (1915, Nachdr. 1973);
 W. Eckstein: Das antike N. in sozialphilosoph. Bedeutung (Wien 1926);
 J. Sauter: Die philosoph. Grundl. des N. (ebd. 1932, Nachdr. 1966);
 S. von Pufendorf: Die Gemeinschaftspflichten des N. Ausgew. Stücke aus »De officio hominis et civis« 1673 (21948);
 F. Flückiger: Gesch. des N. (Zollikon-Zürich 1954);
 H. Reiner: Grundl., Grundsätze u. Einzelnormen des N. (1964);
 H. Reiner: Die Grundl. der Sittlichkeit (21974);
 E. Wolf: Das Problem der N.-Lehre (31964);
 S. C. Othmer: Berlin u. die Verbreitung des N. in Europa (1970);
 A. Verdross: Stat. u. dynam. N. (1971);
 E. Bloch: N. u. menschl. Würde (Neuausg. 21980);
 
N. oder Rechtspositivismus, hg. v. W. Maihofer (31981);
 J. Messner: Das N. (71984);
 K.-O. Apel: Diskurs u. Verantwortung (1988);
 J. Detjen: Neopluralismus u. N. (1988);
 H. Kelsen: Staat u. N. (21989);
 
N. u. Politik, hg. v. K. Ballestrem (1993);
 J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (a. d. Engl., 91996);
 E. Schockenhoff: N. u. Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtl. Welt (1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Absolutismus und Widerstandsrecht: Kampf um die Souveränität
 

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Na|tur|recht, das <o. Pl.> (Ethik): Recht, das unabhängig von der gesetzlich fixierten Rechtsauffassung eines bestimmten Staates o. Ä. in der Vernunft des Menschen begründet ist.

Universal-Lexikon. 2012.

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